Sonntag, 24. Juli 2022
862
Das Christentum lässt sich ganz allgemein als Versuch interpretieren, auf die Abwesenheit des als präsent verheißenen und erwarteten Gottes zu reagieren. Als historisch und kulturell erfolgreich erweisen sich vor allem jene Christentümer, die eine wirksame Kompensation des fehlenden Gottes anbieten. Jedes dieser Christentümer setzt dabei so oder so auf eine menschenmögliche Transformation der Welt. Kulturmächtig werden also immer jene Varianten des Christentums, die das anbieten, was man eigentlich von Gott selbst erwartet hatte.
Samstag, 23. Juli 2022
861
Es gibt eine Uniformität in der Differenz. Wenn jeder anders sein will, dann wird jeder in seinem Anderssein gleichförmig. Das Streben nach Besonderheit führt zuletzt in die Anpassung. Wie wir uns auch drehen und wenden: Dem inhaftierenden Zirkel der Gesetze des Wirklichen können wir nicht entrinnen.
Freitag, 22. Juli 2022
860
Wer die Gleich-Gültigkeit authentischer Lebensformen und -weisen will, der will zugleich die totale soziale Kontingenz.
859
Warum sind denkende Menschen lautloser als dumme Menschen?
Weil sie sich der Fragwürdigkeit ihres Selbst bewusst sind.
Denkende Menschen äußern sich verhalten.
Darin äußert sich jedoch nicht ihre Schwäche.
Die Fragwürdigkeit des Selbst ist notwendige Bedingung für die Wahl des Selbst.
Die Wahl des Selbst wiederum ist notwendige Bedingungen für die Stärke des Selbst.
Mittwoch, 20. Juli 2022
858
Wer authentisch lebt, lebt fremdbestimmt.
Sonntag, 17. Juli 2022
857
Immer wieder die alte Wahrnehmung: Lautstärke und Dummheit liegen nahe beieinander. So wie Selbstsicherheit und Torheit. Sozial und politisch gefährlich ist vor allem jene Torheit, die sich in jedem Idealismus verbirgt.
856
Die gegenwärtig populäre Musik kennt im Grunde genommen nur noch zwei extreme Erscheinungsformen: Belangloses wird gefeiert, oder Belangloses wird beklagt. Dabei wird die Inszenierung von Feier und Klage zunehmend verwechselbar und austauschbar. Diese Beobachtung gilt zugleich auch für nahezu alles, was auf den verschiedenen Social-Media-Plattformen trendet. Von hier ausgehend ließe sich eine aufschlussreiche Kulturdiagnose stellen.
Samstag, 16. Juli 2022
855
Alles Wirkliche ist an sich nichtig.
Es gibt jedoch Wirkliches, das ist mir wichtig.
Nicht, weil ich es bräuchte. Ich kann mich jederzeit beenden.
Es ist mir wichtig, weil ich es will. Darin ist meine Freiheit.
Alles, was ich will, hat Ursachen, Gründe, Wirkungen. Darin ist meine Unfreiheit.
Ich teile mir Raum und Zeit mit anderen wollenden Wesen. In ihrem Willen ist ihre Freiheit.
Der Wille der Anderen hat Ursachen, Gründe, Wirkungen. Darin ist ihre Unfreiheit.
Auch im Willen der Anderen, in seinen Ursachen, Gründen, Wirkungen, ist meine Unfreiheit.
Als Wollende sind und bleiben wir im Wirklichen unvermeidlich frei und unfrei zugleich.
Was uns in dieser Lage zuträglich ist, ist eine paradoxe Interpretation des Wirklichen.
Uns hilft eine Interpretation, die unser Wollen bindet und befreit zugleich.
Es gilt, eine Wirklichkeitsinterpretation ausfindig zu machen, die dies eröffnet:
Wollen mit Bestimmtheit, aber ohne Geländer.
Das ist die Aufgabe.
Sonntag, 10. Juli 2022
854
Zu Nr. 533, 658, 662: In meiner Person lässt sich die Spannung zwischen Natur und Interpretation nicht auflösen. Sie wird allerdings dort erträglich, ich kann also dort gut leben, wo meine Natur so etwas wie ein Zuhause findet, von dem ich mich zugleich interpretatorisch mit einer gewissen Unmittelbarkeit und Leichtigkeit zu distanzieren vermag. Ich kann also dort gut sein, wo mir eine abrahamitische Existenz eröffnet wird, wo ich ankommen und zugleich fremd sein kann.
Besser Fremdling im verheißenen Land, als Fremdling in der Fremde.
853
Ein dialektisches Moment der Aufklärung: Es wird gefordert und verheißen die Autonomie des Subjekts. Erzeugt werden jedoch auch zahllose wirkliche Menschen, die sich selbst ohnmächtig unterworfen sind und diese Unterwerfung mit Autonomie verwechseln. Aufklärung entfesselt gerade auch das, was sie zu überwinden verspricht: Unfreiheit. Und dies durchaus als Massenphänomen.
Samstag, 9. Juli 2022
852
Wenn Gott ganz anders ist, dann sind bereits Begriff und Vorstellung des ganz Anderen irreführend.
Samstag, 2. Juli 2022
851
Natur rettet nicht und Natur lässt sich nicht retten. Dies gilt für unsere erste wie für unsere zweite Natur, für unsere vorfindliche wie für unsere konstruierte Natur, für das also, was wir Kultur nennen, für unsere – wenn man so will – ideellen wie materiellen Behausungen. Insbesondere ist die vorfindliche nicht Rettung vor der konstruierten und die konstruierte nicht Rettung vor der vorfindlichen Natur. Wer vor der einen Natur in die andere zu fliehen, wer die eine Natur mit der anderen zu beherrschen versucht, wird früher oder später scheitern.
Keine der beiden Naturen werden wir jemals los, weder von der einen noch von der anderen Natur können wir uns befreien, beide Naturen – ihre jeweiligen Geltungsansprüche, ihre Vereinbarkeiten, ihre Unvereinbarkeiten und ihre Ausschließlichkeiten – gilt es dauerhaft zu handhaben, zu moderieren. Und immer dann, wenn wir einer der beiden Naturen Vorrang gewähren, drohen auf der unterdrückten Seite schwerwiegende Verluste. Ein aktuelles Beispiel: Während wir natürliche Geschlechtlichkeit ausschließlich als kulturelles Konstrukt begreifen und dieses Konstrukt in einer groß angelegten kulturellen Umkonstruktion zu überwinden versuchen, kommen uns die Fähigkeiten und Möglichkeiten abhanden, in unseren unmittelbaren Begegnungen der erstnatürlichen Geschlechtlichkeit selbst noch Räume zu öffnen und ihre Geltungsansprüche auf geeignete Weise zu befriedigen. Das hat Folgen, die wir kaum wollen können.