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Sonntag, 26. Juni 2022

850

Blättere derzeit noch einmal in der Dialektik der Aufklärung. Große Teile dieser Erzählung haben heute längst den möglichen Resonanzboden verloren. Die zentrale Intuition dieser Erzählung ist jedoch nach wie vor so richtig wie alarmierend.
Meine eigene Kurzfassung dieser Intuition: Indem die Aufklärung – und sie kann ja gar nicht anders – die Entzauberung der Wirklichkeit absolut setzt, setzt sie zugleich die Wirklichkeit selbst absolut. Indem die Aufklärung – und sie kann ja gar nicht anders – den Menschen als total wirklichkeitsmächtiges Subjekt begreift, liefert sie dieses vermeintliche Subjekt tatsächlich den totalen Mächten des Wirklichen aus. Entscheidend ist dabei allerdings dies: Aufklärung ist – entgegen der Selbstwahrnehmung – nicht wesentlich anti-christlich, Aufklärung ist vielmehr wesentlich christlich. Man könnte auch sagen: In der Dialektik der Aufklärung zeigt das Christentum zuletzt sein wahres Gesicht.


Samstag, 25. Juni 2022

849

Der Preis jeder Begabung ist hoch. Der Preis keiner Begabung aber auch. Diesen wie jenen zahlt man ungefragt.

Sonntag, 19. Juni 2022

848

Manche Menschen zwingen uns durch ihre Unveränderlichkeit zur bedingungslosen Anerkenntnis des Wirklichen.

847

Will man vom Leben nicht vollständig ausgeschlossen werden, so wird man sich hier und da zumindest sprunghaft das zuganglich und handhabbar machen müssen, was wird oder geworden ist. Beispiel: ein neuer Fernseher.
Derzeit mühe ich mich darum, meinem 83jährigen Vater die Bedienung des neuen smarten TV-Gerätes mit Hilfe einer smarten Fernbedienung verständlich zu machen – einem haptisch veranlagten Menschen, der es als Handwerker lebenslänglich mit Kräften und Bewegungen in realen Räumen zu tun hatte. Die in diesen Räumen eingeprägten Wahrnehmungen und Interpretationen erweisen sich nun als kaum zu überwindende Hürde. Meinem Vater fehlt schlechtweg der Zugang zu einer Wirklichkeit, die ihm zumutet, sich beim Blick auf einen Bildpunkt einen Raum vorzustellen, den es nicht gibt und hier mit Kräften und Bewegungen umzugehen, die nicht real sind. Für mich noch einmal eine geradezu wehmütig stimmende Erinnerung daran, wie dürftig das ist, was uns mittlerweile als virtuelle Lebenswelt bannt und was wir irrsinnigerweise als Wirklichkeit wahrnehmen und bezeichnen.

Samstag, 18. Juni 2022

846

Heranwachsende halten ihr Erleben und Interpretieren bekanntlich für erstmalig und einzigartig. Ihnen fehlen noch Relation und Differenzierung. Ihnen fehlt vor allem die demütigende Einsicht, dass es nichts Neues gibt unter der Sonne.
Gerade auch die Wirklichkeitsbezeichnungen, die Begriffe Heranwachsender sind daher um Erstmaligkeit und um Einzigartigkeit bemüht. Die Sprache der Pubertät ist immer eine verzerrende und eskalierende, eine um Überbietung bemühte Sprache.
Wenn ich es richtig wahrnehme, so scheint die pubertäre Sprache gegenwärtig eine generationsübergreifende Ausbreitung, damit zugleich eine gewisse kulturelle Verfestigung zu erfahren. Selbst die Alten verfallen mittlerweile einer Art pubertärer kultureller Praxis. In einer sprachlich sich manifestierenden Illusion der Erstmaligkeit und Einzigartigkeit verlieren wir dabei vor allem dies: Relation, Differenzierung, Demut (siehe auch Nr. 371).

Freitag, 17. Juni 2022

845

Wenn man den Streit um deutsche Unterstützungsleistungen für die Ukraine aufmerksam beobachtet, dann wird darin noch einmal durchsichtig, dass Hitler in Deutschland nach wie vor mächtig ist. Deutsche Politik kann sich dem nationalsozialistischen Bann nach wie vor nicht entziehen – vor allem dann nicht, wenn sie diesem Bann von außen positiv oder negativ unterworfen wird.
So gesehen lässt sich die viel gerügte Zögerlichkeit des Kanzlers auch als stiller Versuch begreifen, sich in den so heiklen sicherheitspolitischen Entscheidungen dieser Tage gerade nicht mehr von Hitler durchs Dorf treiben zu lassen.

844

So etwas wie einen öffentlichen Diskurs gibt es nicht. Es gibt lediglich so etwas wie eine öffentliche Platzierung von Symbolen. Daher folgt das, was in dieser und durch diese Platzierung geschieht, auch nicht der möglichen Rationalität eines Diskurses.

843

Empirische Wissenschaft, als Natur- oder als Sozialwissenschaft, erweckt den Anschein, als könne sie uns raten. Deshalb schlägt sie uns so sehr in ihren Bann. Tatsächlich aber ist Empirie nicht mehr als Anschauung. Deshalb hinterlässt sie uns, um Rat gefragt, letztlich so ratlos.

842

Denkfabrik. Als ließe sich Denken produzieren. Denken und Produktion sind sich feind.

Sonntag, 5. Juni 2022

841

Mit zunehmendem Alter wird wichtiger, was uns zuträglich ist. Unwichtiger weil abträglich wird das, wonach uns der Sinn steht.

840

Manchmal muss man in das Falsche einwilligen, um das Notwendige zu ermöglichen.

Mittwoch, 1. Juni 2022

839

München – eine Stadt, die man eigentümlich distanziert annehmen kann. In ihr kann man sein, ohne von ihr zu sein.