Seiten

Donnerstag, 30. Dezember 2021

814

Die Auseinandersetzung mit 2 Thess 2 und der daran sich anschließenden Politischen Theologie hatte überraschende Nebenwirkungen. Nach Ereignis und Wendung des vergangenen Jahres bin ich innerlich erstaunlich sortiert. Der Blick ist noch einmal zurecht gerückt, oder treffender: neu geklärt und ausgerichtet.
Es ist ausgerechnet die therapeutische Wendung meines Denkens, die mich nicht etwa zu mir selbst, sondern zurück zur Sache führt. Nicht für mich selber denke ich, sondern für die Sache, für die alles entscheidende Sache, an der wir stehen, an die wir gestellt sind. Und es führt fatal in die Irre, wenn wir uns selbst mit der Sache verwechseln.
An der alles entscheidenden Sache zu stehen, um im Streit für diese Sache (für andere) das sein zu können, was um der Sache willen vonnöten ist, heißt immer, nicht mehr das sein zu können, was man ist. Es ist immer so etwas wie eine umgekehrte κένωσις gefordert (Phil 2), eine Selbstverleugnung, eine Selbstentsagung, eine Selbstentäußerung, ein Leerwerden um der Sache willen, im Dienst der Sache.
Es ist für mich also höchste Zeit, den entscheidenden letzten, bislang nie konsequent gewagten, nie endgültig vollzogenen Schritt zu gehen: mein ganz eigentümliches eigenes Kreuz auf mich zu nehmen (Mt 16,24) und endlich die Erwartung abzulegen, irgendwer würde mir irgendwann den Pfahl aus meinem Fleisch ziehen (2 Kor 12). Dieser Schritt möge das Kommende im kommenden Jahr sein.

Dienstag, 28. Dezember 2021

813

Einer dieser unverfügbaren Momente, in denen uns die Wahrheit findet: Das Geheimnis der ἀνομία (2 Thess 2,7), dem ich nun schon seit so langer Zeit auf der Spur bin, hat sich mir in einem unerwarteten Augenblick entschlüsselt. Viele Jahre der bisweilen verzweifelten Arbeit an Begriffen und Interpretationen erweisen sich plötzlich als unverzichtbar, als not-wendig.
Die nun anstehende öffentliche Entschlüsselung des Geheimnisses der Anomie wird zweifellos wirkungslos bleiben. Und in gewissem Sinne ist das auch gut so. Für mich selbst bleibt jedoch ein kostbarer Moment, der mich unmittelbar an Luthers Formulierungen in der Vorrede zum ersten Band der Wittenberger Ausgabe seiner lateinischen Schriften (1545) erinnert, mit deren Hilfe er seinen inneren Zustand nach der Entschlüsselung des Geheimnisses der Gerechtigkeit Gottes zum Ausdruck zu bringen versucht: „Da hatte ich das Empfinden, ich sei geradezu von neuem geboren und durch geöffnete Tore in das Paradies selbst eingetreten. Da zeigte mir sofort die ganze Schrift ein anderes Gesicht. Ich durchlief dann die Schrift nach dem Gedächtnis und sammelte entsprechende Vorkommen auch bei anderen Vokabeln […]. Wie ich vorher die Vokabel ‚Gerechtigkeit Gottes‘ gehasst hatte, so pries ich sie nun mit entsprechend großer Liebe als das mir süßeste Wort.“

Sonntag, 26. Dezember 2021

812

In unserem Leiden in und an Systemen leiden wir tatsächlich am Wirklichen. Wenn und indem wir Systeme zu verändern versuchen, wollen wir eigentlich das Wirkliche verändern. Das aber ist nicht möglich.
Systemveränderungen ändern also nichts an unserem Leiden. Wenn und indem wir uns Systemveränderung zur Aufgabe machen, geben wir uns lediglich übergangsweise einen virtuellen und immer flüchtigen Sinn. Jenseits dieses Sinns wartet ein anderes System, an dem wir früher oder später erneut leiden werden. Anders aber unverändert.

811

Das Einzelne ist nicht das Individuelle. Das Individuelle, das unteilbare Ganze, das Wesentliche ist eine idealistische Fiktion. Das Einzelne dagegen ist das Wirkliche: das unendlich fragmentierte Fragment (siehe Nr. 512, 699, 744).

Freitag, 24. Dezember 2021

810

Gestern Kinostart von Matrix Resurrections. Selbstverständlich war ich dabei, und wieder einmal habe ich gut daran getan, den Film zunächst einmal alleine anzuschauen (siehe Nr. 422).

Mittwoch, 22. Dezember 2021

809

Eine besonders trügerische Illusion, von der sich vor allem Theologen und Philosophen gerne blenden lassen, ist die, dass Wirklichkeit so arrangiert sei oder dass sie sich so arrangieren ließe, wie ein schlüssig komponierter Text.

Dienstag, 21. Dezember 2021

808

Endlich sitze ich noch einmal denkend am Schreibtisch. Meine mir selbst gestellte Aufgabe: Annäherung an einen eigenständigen, vor allem an Schmitt und Agamben anknüpfenden und sich zugleich von ihnen absetzenden Begriff des Katechon. Wenn irgendein Begriff der Tradition zuhanden ist, in den ich nahezu alles hineinlegen kann, was ich in therapeutischer und politischer Hinsicht zu sagen habe, dann ist es wohl dieser.

807

Entscheidend ist nicht, welche Bedeutung Begriffe haben. Entscheidend ist, welchen Gebrauch wir von ihnen machen.

Samstag, 18. Dezember 2021

806

Das Eigentümliche unseres Bewusstseins, insofern es Vernunft ist, liegt darin, dass es sich unausgesetzt etwas vornimmt, was unmöglich ist und unvermeidlich scheitern muss. Als Bewusstseinswesen können wir jedoch nicht hinter unsere Vernunft zurück, vielmehr sind wir auf sie geradezu angewiesen.
Das Klügste, was wir daher tun können, ist dies: die Vernunft unausgesetzt mit ihren eigenen Mitteln schlagen, sie unausgesetzt auch gegen sich selbst wenden. Kurz: nicht vernünftig sein, sondern Vernunft vernünftig handhaben.

Dienstag, 14. Dezember 2021

805

Ein lieber Mensch überreicht mir heute überraschend ein vorgezogenes Weihnachtsgeschenk: Groot aus dem 3D-Drucker. Da hat wohl jemand im Verlauf des Jahres irgendwann einmal aufmerksam zugehört.
Der kleine Kerl hat bereits seinen Platz auf meinem Schreibtisch eingenommen. Gleich neben der schwarzen Luther-Figur von Playmobil (siehe Nr. 193). Groot soll mich hier künftig an zweierlei erinnern (siehe Nr. 803). Zum einen: Jeder Begriff, den wir uns aneignen oder verschaffen, kann im Grunde genommen alles und nichts repräsentieren. Unseren Begriffen wohnt nichts Wesentliches inne. Zum anderen: Kommunizierend erzählen und interpretieren wir uns unablässig aneinander vorbei. Es gibt jedoch einige wenige Menschen, deren Gewordensein und Sosein die Voraussetzungen dafür mitbringen, dass wir uns ungeachtet aller unüberwindlichen Differenz kommunizierend nicht nur verständigen, sondern sogar annähern können. Diese Menschen gilt es zu hüten wie ein Kleinod.

Samstag, 11. Dezember 2021

804

In den vergangenen Wochen bin ich immer wieder durch Momente der Verärgerung hindurchgegangen. Verärgert war ich vor allem über mich selbst. Wer seiner Natur Raum lässt im Wirklichen, der wird nicht verhindern können, dass sich diese Natur hier und da verselbständigt, dass sie sich den Zügeln der Interpretation entzieht, dass sie ihren je eigenen Kausalitäten Folge leistet. Mit entsprechenden Folgen.
Was ich mir nun noch einmal dringend aneignen muss, ist Luthers robuste Gelassenheit. Pecca fortiter, sed fortius fide! Unter diesem Diktum lebend, müsste auch jeder Ärger über das sich Ereignende und über das daraus Werdende überwunden sein (siehe auch Nr. 140).

803

Kommunikation ist wichtig, unverzichtbar geradezu. Wir dürfen uns jedoch nicht täuschen: Auch kommunizierend nähern wir uns nicht dem an, was insbesondere nach Kant als Ding an sich bezeichnet wird. Wir können auch kommunizierend nicht das Wesen und damit die wesensmäßige Einheit der Dinge freilegen. Nicht, weil wir nicht dazu in der Lage sind, nicht, weil wir eine (göttliche) Grenze nicht zu überschreiten vermögen. Vielmehr deshalb, weil es so etwas wie das Ding an sich schlechtweg nicht gibt. Es gibt kein Wesen des Dings oder der Dinge, es gibt keine Einheit des Dings oder der Dinge. Das Wesen der Dinge, so müsste man uneigentlich sagen, ist nicht die Einheit, sondern die unendliche Differenz.
Was uns also kommunizierend gelingen kann, ist nicht etwa die Herstellung von Annäherung und Einheit, sondern allen- und bestenfalls die Moderation und Kanalisierung von Differenzen. Schon die Einsicht, dass niemand von uns mit seinen Interpretationen einem Ding an sich näher stehen kann als andere, dass wir uns in kommunikativer Begegnung lediglich interpretierend durch die Wirklichkeit bewegen können, im Wirklichen aber nie bei irgendeinem einigenden Ding oder Wesen ankommen werden – schon diese Einsicht müsste uns, so sollte man meinen, in ausreichendem Maße demütigen.