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Freitag, 16. Juli 2021

767

Wir betrügen uns selbst, wenn wir annehmen, wir hätten die Welt irgendwann unter den Füßen.

766

Marcus Aurelius – gelegentlich blättere ich gerne in seinen Selbstbetrachtungen. Wo mein Denken dem stoischen analog ist: in der Hinwendung zum zumindest oberflächlich Verfügbaren, in der Handhabung der Innerlichkeit, im Streben nach innerer Unabhängigkeit in äußerer, praktischer Absicht.
Nun hängt die innere Unabhängigkeit des Stoikers an zwei eigentümlichen Annahmen: an der Annahme eines unbewegten und unbeweglichen inneren Rückzugsortes, gleichzeitig an der zum Fatalismus hinneigenden Annahme einer harmonischen, unendlichen, gewissermaßen revolvierenden Bewegung aller Dinge.
Beide Annahmen sind Teil einer Erzählung, die heute kaum noch erzählbar ist. Weder die Annahme eines stabilen (göttlichen) Wesenskerns des Menschen, noch die Annahme der Ewigkeit eines wohlgeordneten Kosmos erscheint noch haltbar. Die Handhabung unserer Innerlichkeit kann also nicht mehr auf stoischen Voraussetzungen ruhen.

765

Wer Völker führen soll, der muss Schafe hüten können, der muss es aushalten, Schafe hüten zu müssen.

764

Unsere Bedürfnisse machen uns vergesslich.

Donnerstag, 15. Juli 2021

763

Die wohl gefährlichste, zugleich aber auch die letzte mögliche Angst ist die Angst davor, keine Angst mehr haben zu müssen.

Sonntag, 11. Juli 2021

762

Die zur Totalität hin neigende Offenheit der gegenwärtig heranwachsenden Generation, ihre normative Offenheit für die Gleich-Gültigkeit alles Gültigen, hat auch etwas zu tun mit der Entscheidungsunfähigkeit dieser Generation. Ihr sind die nicht-funktionalen, die (religiös oder metaphysisch) substantiellen Kriterien des Entscheidens abhanden gekommen. Sie hat aber auch den Mut zur Entscheidung verloren. Den Mut zur Absonderung und zum Verlust.

761

Jeder Aufgabe, die uns zuteil wird, wohnt eine Versuchung inne: die Versuchung des Rufs und des Sinns.

760

Es gibt Augenblicke, in denen sich Mut und Zuversicht hier, Übermut und Ignoranz dort kaum unterscheiden lassen. Gefährlich ist in diesen Augenblicken der Trotz, das innere Aufbegehren gegen die Möglichkeit des Scheiterns.

Samstag, 3. Juli 2021

759

Woran ich mich gelegentlich selbst erinnern muss: Die Rollen, die ich im Wirklichen spiele, die unzähligen Varianten des als ob der Repräsentation, die ich darstelle – auch das bin ich. Nicht in dem Sinne, dass ich bin, was ich darstelle. Sondern in dem Sinne, dass ich überhaupt darstellen kann und die Darstellung als solche begreife.

Freitag, 2. Juli 2021

758

Liebe, wie ich sie durch die Interpretation der Ungültigkeit alles Gültigen hindurch begreife, kennt keine Gründe. Darin gleicht Sie der Entscheidung. Jedoch: Unsere Gültigkeitsnatur verlangt danach, mit Gründen geliebt (oder gehasst) zu werden. Wir wünschen, dass der Andere sich mit Gründen für (oder gegen) uns entscheidet. Und als Gültigkeitsnaturen sind wir – bewusst oder unbewusst – ununterbrochen damit beschäftigt, diese Gründe zu liefern.
Für das, was ich Liebe nenne, bedeutet dies: So, also grundlos, will niemand geliebt werden. So will sich niemand lieben lassen. Und: Dass und wie ich liebe, dass und wie und für wen ich mich entscheide, kann immer nur irritieren, kann immer nur auf Unverständnis stoßen (siehe auch Nr. 252).

Donnerstag, 1. Juli 2021