Samstag, 26. Juni 2021
756
Meine Angst in dürren Sätzen – sofern und soweit hier der Ort ist, sie überhaupt zu formulieren.
755
Warum ich mit dem gegenwärtigen Wissenschaftsbegriff und der gewordenen Wissenschaftspraxis so wenig gemein habe: Wissenschaft, wie sie heute verstanden und betrieben wird, vermag noch nicht einmal im Ansatz etwas anzubieten, was uns dabei helfen könnte, eine Welthaltung auszubilden und uns in der Welt zu halten. Alles Forschen, selbst das oft bloß vermeintliche Denken in Theologie und Philosophie, ist zuletzt allein noch ausgerichtet auf funktionale Mitläuferschaft im Getriebensein der Zeit. Wissenschaft überantwortet uns heute restlos dem Gebrauch durch das Wirkliche - und dies gerade auch dadurch, dass sie uns Werkzeuge bereitzustellen versucht zur Steuerung von Kausalität.
Freitag, 25. Juni 2021
754
Die Überwindung der Zuverlässigkeit aufgrund des gegebenen Wortes durch die Zuverlässigkeit aufgrund des gesetzten Rechts mag als kultureller Fortschritt gewertet werden. Mit diesem Fortschritt verlieren wir jedoch zugleich die personale Unmittelbarkeit, die sachliche Schlichtheit und die wirklichkeitsgemäße Beweglichkeit unserer Bindungen.
Mittwoch, 23. Juni 2021
753
Niemand will tatsächlich gerettet werden. Selbst in unserem Leiden an uns selbst neigen wir zur Selbstbehauptung.
Sonntag, 20. Juni 2021
752
Reservative Selbsterinnerung: Die Neuanschauung unmittelbarer Wirklichkeitsbegegnung kann und darf nur einer einzigen Absicht dienen – der vorreligiösen, der vormetaphysischen Selbststabilisierung und Ermutigung im Wirklichen. Absicht kann nur die Wiedergewinnung schwacher, abrahamitischer Unerschütterlichkeit sein – diesseits aller religiösen und metaphysischen Selbstermächtigungsversuche, deren vermeintliche Stärke sich zuletzt als Schwäche erweisen muss.
Freitag, 18. Juni 2021
751
In jeder Entscheidung ist mehr aus- als eingeschlossen. In jeder Entscheidung ist mehr losgelassen als ergriffen.
Freitag, 11. Juni 2021
750
Wir sind Wahrnehmungswesen, die sich ihrer selbst auf je einzelne Weise bewusst werden. Und natürlicherweise erwarten wir, dass wir anderen Wahrnehmungswesen auf die gleiche, eben auf unsere je einzelne Weise bewusst sind. Das ist jedoch unmöglich. Und so durchläuft jeder in der Begegnung mit anderen seinen je einzelnen Prozess der Verhärtung. Zuletzt vibrieren wir alle in der Begegnung mit anderen auf unsere je einzelne Weise zwischen Wahrnehmungssehnsucht und Begegnungsangst.
Mittwoch, 2. Juni 2021
749
Agambens Römerbriefkommentar. Eine beeindruckend gelehrte, unverzichtbar lehrreiche Sammlung begrifflicher Aufklärungen und Differenzierungen. Und doch bleibt Agambens Neuannäherung an Paulus hinter Paulus selbst zurück. Agamben verharrt auf der Schwelle, er verharrt in dem Bemühen, insbesondere den Begriff der Zeit umzuinterpretieren, einen veränderten, messianischen Zeitbegriff anzubieten. Absicht ist es, mit einem veränderten Zeitbegriff zugleich einen veränderten Wirklichkeitsbegriff zu entwickeln, einen Begriff, der zuletzt eine wirkliche (politische) Transformation von Wirklichkeit eröffnet. Das ist geradezu anti-paulinisch. Agamben fehlt die paulinische Bereitschaft, das Weltwirkliche tatsächlich loszulassen. Ihm fehlt die dies allererst ermöglichende paulinische Fiktion, ihm fehlt der paulinische Glaube einer ganz anderen, nicht und niemals wirklichen Wirklichkeit, in der die Weltwirklichkeit als aufgehoben und überwunden durch- und angeschaut werden darf. Agamben fehlt also der Ermöglichungsgrund für ein paulinisches Verständnis des als ob nicht im eigentlichen Sinne. Agambens als ob nicht tendiert unausgesetzt dazu, ein wirklich nicht zu verlangen, in ein wirklich nicht abzukippen. Und so wundert es nicht, dass auch Agambens grundsätzlich so erhellende begriffliche Aufklärungen und Differenzierungen zuletzt nicht das bereit halten, was Paulus selbst bereit hält: Freiheit. Entängstigende Freiheit.
Dienstag, 1. Juni 2021
748
Die Falle, in die mich meine Natur bis heute bei nahezu jeder Begegnung hineintappen lässt: Sie hält mich in der naiven Annahme, die Begegnung sei unmittelbar, es begegneten sich hier zwei Einzelne abseits und unabhängig vom Allgemeinen. Diese Annahme ist jedoch immer und überall falsch. Jede Begegnung ist immer und überall ins Allgemeine eingehüllt, vom Allgemeinen durchdrungen, vom Allgemeinen aufgeladen. Nie begegnen wir uns noch unmittelbar, sondern immer in unseren vom Allgemeinen zugewiesenen Rollen und Funktionen, verbunden mit den entsprechenden Rollen- und Funktionserwartungen.
Mittlerweile gelingt es mir zumeist recht spontan, meine Begegnungen zu kontextualisieren, sie im Kontext des Allgemeinen wahrzunehmen und selbst entsprechend zu funktionieren. Es gibt jedoch auch Begegnungen, da verweigert sich meine Natur standhaft jeder Kontextualisierung – gegen alle Erfahrung, gegen alle Interpretation. Die unvermeidliche Einsicht ist dann besonders schmerzhaft: auch hier keine Unmittelbarkeit, bloß Rolle, bloß Funktion.