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Samstag, 23. Januar 2021

689

Kultur ist immer auch geronnene Praxis eines kollektiven naturalistischen Fehlschlusses.

688

Von seiner je eigenen Widerständigkeit soll man sparsam Gebrauch machen. Diesen Rat würde ich – gleichviel, für welche Gültigkeit er eintritt – jedem geben. Nur jeweils zu unterschiedlichen Zwecken.

Sonntag, 10. Januar 2021

687

Meine Frau verschickt gelegentlich WhatsApp-Sprachnachrichten. Das ist für sie ein durchaus nützliches Instrument, aber eigentlich gebraucht sie es nur ungern. Vor allem, weil Sie ihre eigene Stimme so befremdlich findet. „Das bin ich nicht“, stellt sie bei der Kontrolle ihrer eigenen Aufnahmen immer wieder fest.

Dass wir uns in unserer aufgenommenen Stimme nicht wiedererkennen, ist ein bekanntes und erklärbares Phänomen. Anders als unsere Zuhörer, hören wir uns selbst beim Sprechen nicht nur äußerlich, sondern zugleich auch innerlich, vermittelt über die Schädelknochen auch über unser Innen- und Mittelohr. Der Knochenschall verändert für uns selbst die Frequenz unserer Stimme, sie klingt uns tendenziell tiefer als anderen, als bloß äußerlichen Hörern. Wenn wir uns dann, etwa in elektronischen Aufnahmen, so hören, wie andere uns hören, sind wir uns plötzlich selbst merkwürdig fremd.

Ein hilfreiches Bild, eine hilfreiche Analogie. Die Differenz der Stimmwahrnehmung und die daran hängende Irritation lässt sich ausdehnen auf die Differenz der Wahrnehmungen überhaupt. Zum einen: Wir sind anders, als wir uns selbst wahrnehmen, und andere nehmen uns anders wahr, als wir uns selbst wahrnehmen. Zum anderen: Wenn wir andere wahrnehmen, dann sind diese anders, als wir sie wahrnehmen. Und nicht allein das. Sie sind anders anders. Vorsicht also bei der Selbst- und bei der Fremdwahrnehmung. Vorsicht vor allem bei der Feststellung dessen, was Wahrheit sein könnte. Irritierbar und irritierend bleiben - das muss wohl die Devise sein.

686

Vor einigen Jahren habe ich in einem publizierten Text die auf Praxis gerichtete Reservation zugleich als tätiges Warten und als wartende Tat beschrieben (siehe auch Nr. 45, 162). Damals und seitdem habe ich der praktischen Differenz, die in diesen beiden Äußerungen reservativer Interpretation angedeutet ist, keine weitere Beachtung geschenkt. Das muss sich wohl ändern. Diese wie jenes ist abhängig von und bezogen auf Zeit, Kontext und Gegenstand. Reservation war für mich selbst bislang vor allem wartende Tat. Nun aber stehe ich vor der doch neuen Herausforderung tätigen Wartens.

Sonntag, 3. Januar 2021

685

Zu Nr. 680: Der tröstliche und ermutigende Gehalt reservativen Glaubens kann weder substanzieller noch funktionaler Natur sein. Dieser Glaube stellt kein Haben, kein Wiedergewinnen, kein Bewirken, kein Werden, kein Erreichen mehr bereit. So gesehen ist er gehaltlos, leer.

684

In unserem Ringen mit der Welt bleiben wir immer auch Sklaven der Welt – egal, ob wir die Welt zu bekämpfen oder zu optimieren versuchen.

683

Gestern die Netflix-Dokumentation der Becomig-Lesereise Michelle Obamas angeschaut. Herausragendes Beispiel eines charismatischen und daher eindrücklichen, zugleich aber unbelehrbaren und daher besorgniserregenden Idealismus. Ein Idealismus, der sich vom Wirklichen nicht beeindrucken lässt, kann viel bewegen und erreichen. Er ist aber immer auch gefährlich weil destruktiv.

Freitag, 1. Januar 2021

682

Neulich einem dieser üblicherweise allestauglichen Allerweltskalendersprüche begegnet: „Ich kann keinen Spagat. Aber bisher gab es keinen Moment, an dem ich dachte: Jetzt könnte nur noch ein Spagat helfen.“ Mit Hilfe dieses Satzes, dem ein feines Lächeln innewohnt und der mich unmittelbar an Heideggers Markierung des Gottesfehls erinnert, können wir uns tatsächlich etwas Wesentliches vor Augen halten: Wenn wir alles Wirkliche, das wir für uns selbst als Vermögen wünschen, einmal auf das reduzierten, was uns auf unserem Weg durch die Wirklichkeit hindurch tatsächlich notwendig ist, dann würden wir möglicherweise feststellen: Was wir brauchen, haben wir auch.

681

Mir sitzt die evangelikale theologia gloriae meiner Kindheit und Jugend nach wir vor wie ein Dämon unter der Haut. Manche Prägungen wird man schlechterdings nicht los. Man muss unausgesetzt und lebenslang bereit bleiben, sie auf immer wieder frischer Tat zu ertappen.