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Sonntag, 17. Mai 2020

639

Was im Kairos zusammenfallen muss (siehe auch Nr. 500).

Fügung: Die im Fluss des Chronos sich als fragmentiert und widerständig erweisende Wirklichkeit zeigt sich im Kairos plötzlich und überraschend als sich fügend, als fügsam, als gefügig.

Takt des Urteils (Clausewitz): Während sich die Wirklichkeit unerwartet fügt, muss ihr Gang aufmerksam und sensibel beobachtet, vorausgeahnt, durchschaut werden.

Tatkraft: Das Urteil bleibt wirkungslos ohne die Tat. Nun zählt nicht, was zu tun wäre. Es zählt allein, was getan wird. Ruhe- und rastlos. Im Takt der Wirklichkeitsentwicklung.

Ignoranz: Im Fluss des Chronos ist vieles gleichzeitig wichtig, im Kairos darf sich der Blick allein auf das richten, was hier und jetzt Not tut. Lass die Toten ihre Toten begraben.

Durchhaltewillen: Kairos ist selten bloß ein Augenblick, ist nicht selten eine Spanne. Diese Spanne gilt es auszuhalten und auszufüllen. Kein Krieg ist gewonnen, bevor nicht die letzte Schlacht geschlagen ist.


Erste Anmerkung: Fehlt die Fügung, so gibt es gar keinen Kairos, den man beim Schopfe packen könnte. Fehlen Takt des Urteils, Tatkraft, Ignoranz oder Durchhaltewillen, so hascht die Hand ins Leere, die Gelegenheit versinkt im Chronos.

Zweite Anmerkung: Es gibt auch eine Fügung des Bösen. Es gibt einen Kairos, dem man sich entziehen muss wie Josef der Frau des Potiphar.

638

Die deutschen Streitkräfte sind heute das geworden, was man durch die Konstrukte Innere Führung und Staatsbürger in Uniform hat verhindern wollen: ein Staat im Staat. Nicht im Sinne des (durchaus befragungswürdigen) Schreckensbildes, das man in mahnender Erinnerung an Weimar vor Augen hatte, nicht im Sinne eines den demokratischen Rechtsstaat von innen gefährdenden Krebsgeschwürs. Die Bundeswehr ist insofern Staat im Staat, als dass sie sich über die Jahrzehnte zu einem rechtsstaatlich-demokratischen Staatsanalogon inmitten des demokratischen Rechtsstaates aufgebläht hat. Nahezu alle zentralen Funktionen und Prozesse, die im Staat selbst zu beobachten sind, sind innerhalb der Streitkräfte gespiegelt.
Das hat selbstverständlich gute Gründe. Es verhindert jedoch, dass die Streitkräfte sich selbst als bewegliches Werkzeug verantwortlicher Politik begreifen und als bewegliches Werkzeug solcher Politik gebraucht werden können.

Sonntag, 10. Mai 2020

637

Diejenigen, die gerade im Zuge der beginnenden Corona-Verarbeitung als Verschwörungstheoretiker belächelt oder bekämpft werden, haben ja nicht das, was man Theorie nennen könnte. Verschwörungstheoretiker sind eigentlich Verschwörungsmystiker. Sie durchschauen und verstehen nicht mehr und nicht weniger als ihre Feinde: die unmittelbar anschauungsgläubigen Offensichtlichkeitsmystiker. Was Verschwörungsmystiker so gefährlich macht: Ihre krude Mystik bringt auch jene in Misskredit, die wir gerade jetzt so dringend brauchen: die Apokalyptiker und Propheten.