Was dem entgegen steht: Menschen dieser Beschaffenheit sind selten. Und: Nahezu alle politischen Auslesesysteme, die wir etabliert haben, spülen Menschen auf politische oder politisch relevante Positionen, die anders beschaffen sind. Menschen, die so beschaffen sind, dass sie möglichst perfekt den Mechanismen des politischen Systems entsprechend funktionieren.
Sonntag, 24. November 2019
551
Vermehrt denke ich derzeit darüber nach, wie Menschen sein, wie sie beschaffen, wozu Menschen in der Lage sein müssen, die unter gegenwärtigen Bedingungen politische oder politisch relevante Positionen besetzen. Zweifellos brauchen wir hier mehr denn je Menschen der Entscheidung und Tat. Letztlich zählt gerade auch politisch nur dies: die Tat. Dringender denn je brauchen wir jedoch in politischen oder politisch relevanten Positionen Menschen, deren Entscheidung und Tat ein Warten ist. Wir brauchen Menschen, deren Entscheidungen und Taten nicht bloß Funktionen ihrer selbst oder des politischen Systems sind. Wir brauchen politische Menschen, die fähig sind, zu sich selbst und zu den Funktionen des politischen Systems innerlich (interpretatorisch) auf maximale Distanz zu gehen, aus dieser Distanz heraus zu entscheiden – und dann das und nur das zu tun, was Not tut, alles andere jedoch zu lassen. Wir brauchen Menschen der politischen Entscheidung und Tat, die sich allem, was nicht Not tut, kraftvoll verweigern können.
Samstag, 23. November 2019
550
Kein Allgemeines vermag das Einzelne aufzunehmen. Und kein Einzelnes vermag sich in ein Allgemeines einzufügen. Das ist die Unmöglichkeit, die unter anderem das Politische zu überwinden versucht. Dieser Versuch des Politischen ist jedoch zum Scheitern verurteilt. Was wir im Politischen wollen, ist grundsätzlich unmöglich. Der bescheidene Ansatz jedes Politischen muss daher sein: das Unmögliche halbwegs handhaben.
549
„Man kann und darf das letzte Wort nicht vor dem vorletzten sprechen“ (Dietrich Bonhoeffer). Zunächst ein Satz wie ein banaler Kalenderspruch, zur beliebigen Interpretation freigegeben. Tatsächlich aber eine bittere Diagnose: Im Weltwirklichen haben wir nur vorletzte Worte. Das letzte Wort ist kein Wirklichkeitswort, kein Wort, das wirklich sein könnte. Im Wirklichen steht uns kein letztes Wort zur Verfügung. Noch nicht einmal am offenen Grab.
Das ist das Nichts, mit dem sich auch Karl Barth konfrontiert sah. Seine (ganz moderne) Antwort: Konstruktion einer positiven Als-ob-Religion. Formulierung eines fiktiven letzten Wortes, damit überhaupt etwas Positives, etwas Gültiges zu sagen bleibt. Barth hätte die Unsagbarkeit des Letzten besser noch eine Weile schweigend und leidend erduldet. Er war dem Wort der Ungültigkeit wieder sehr nahegekommen (Römerbriefkommentar). Und seine Zeit hätte des Ungültigkeitswortes dringend bedurft.
Sonntag, 17. November 2019
548
In dieser Woche noch einmal der alten salomonischen Weisheit begegnet: „Wo viele Worte sind, da geht’s ohne Sünde nicht ab. Wer aber seine Lippen im Zaum hält, ist klug“ (Spr 10,19). Diese Weisheit in nicht-moralischer Interpretation: Wo viele Worte, da viele kaum beherrschbare Kausalitäten. Wenige bedachte Worte dagegen sind in der Lage, die eine oder andere Kausalität aufzufangen, ihr Einhalt zu gebieten. Was nicht vergessen werden darf: Es gibt auch eine Schweigsamkeit, es gibt auch eine Stille des Bösen.
547
Das moderne, funktionalisierte Leben fordert von uns, in vielen verschiedenen Räumen des Lebens viele verschiedene Rollen zu bedienen, vielen verschiedenen Rollenbildern zu entsprechen. Und es ist wohl die reservative Interpretation, die in kaum zu überbietender Weise dazu befähigt, die modernen Selbstdifferenzierungen (oder auch: Selbstentfremdungen) zu handhaben. Und doch müssen wir sensibel bleiben dafür, dass jede Selbstdifferenzierung immer auch Grenzen hat, die wir nicht überschreiten können, manchmal auch nicht überschreiten dürfen. Grenzen der Natur und Grenzen der Interpretation (wobei, um es noch einmal zu betonen, jede Interpretation immer auch abhängt von der jeweiligen Natur).
546
Es ist durchaus nicht so, dass ich derzeit – unter veränderten Umständen – nicht denken würde, nicht denken müsste. Gefordert ist von mir allerdings nun wieder ein radikales Mit-Denken, eine über den Tag nahezu unterbrechungsfreie funktionale Rationalität. Und für diese Art des Denkens ist dieser Blog nicht der rechte Ort.
Samstag, 9. November 2019
545
Die Gaukelei des mathematisch-logischen Ideals: Es gibt Lösungen. Im Wirklichen gibt es jedoch keine Lösungen. Es gibt nur Entscheidungen. Und entscheidungsinduzierte Kausalitäten.