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Sonntag, 27. August 2017

308

Die Sehnsucht nach Berufung und Auftrag ist die Sehnsucht nach dem Besonderen im Sinne der Überhöhung des Allgemeinen, die Sehnsucht nach Heldentum und Heiligtum. Diese Sehnsucht verbleibt ganz im Raum der Natur und des Repräsentativen.
Der reservative Glaube dagegen wirft mitten ins Hier und Jetzt des jeweils Allgemeinen und stellt hier gegen die Natur die Aufgabe des Besonderen im Sinne des ganz Anderen. Dieses ganz Andere bleibt (in seinen Wirkungen) zumeist unbemerkt, hat nichts Heldenhaftes oder Heiliges an sich, weil es nicht repräsentativ ist. In diesem Ruf gilt es zu verharren, an diesem Ruf und Auftrag lässt sich der reservativ Glaubende genügen. Allein in dieser Schwäche ist er mächtig.

307

Nach wie vor neige ich dazu, der unendlichen Verantwortung der Dekonstruktion zu verfallen. Aber diese Verantwortung ist eine Erscheinungsform der Hoffnungslosigkeit. Die Verantwortung der Dekonstruktion kann nicht warten. Dekonstruktion kennt nicht die Verantwortungslosigkeit reservativen Wartens, kennt nicht die Ruhe in der unendlichen Verantwortung des ganz Anderen. Weil die Dekonstruktion nicht glaubt, bleibt sie nicht (Jes 7,9).

306

Ethik als repräsentatives System ist Ausdruck der kosmologischen Hoffnung, Moral möge mehr sein als Mode.

Mittwoch, 9. August 2017

305

Denken im eigentlichen Sinne hat immer den Willen des Einzelnen zum Gegenstand. Alles (uneigentliche) Denken, das den Willen des Einzelnen nicht unmittelbar zum Gegenstand hat, muss ihn zumindest mittelbar zum Gegenstand haben, muss also dem eigentlichen Denken irgendwie dienlich sein. Andernfalls ist es überflüssiges und damit verzichtbares Denken.

Dienstag, 8. August 2017

304

Was mich unentwegt irritiert, belästigt, belastet (obwohl ich es besser weiß, obwohl ich mir das bessere, antikatholische Wissen immer wieder vorhalte): Glaube und Liebe im reservativen Sinne kann man nicht einüben, sie können nicht zur guten Gewohnheit werden. Sie sind eben keine Tugenden, in denen man heimisch werden könnte. Sie sind vielmehr unausgesetzte Erinnerung daran, sich im Weltwirklichen an nichts zu gewöhnen, in nichts heimisch zu werden.
Glaube und Liebe im reservativen Sinne richten sich damit gegen unsere religiösen und moralischen Bedürfnisse, gegen alle Bedürfnisse des Ankommens in etwas Weltwirklichem überhaupt. Paulus wählt dafür die treffende Metapher des Kampfes (1 Kor 9,25–27). Selig sind gerade nicht die religiös und moralisch Tugendhaften. Selig sind vielmehr jene, die sich aller Dinge enthalten, die sich schinden und ihr eigenes Selbst bezwingen, die auf diese Weise darum ringen, dass ihr Glaube und ihre Liebe weltwirklich relevant und wirksam werden. Die paulinische Metapher des Kampfes sagt damit nichts anderes als die jesuanische Metapher der Nachfolge (Lk 9, 23–25).