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Sonntag, 20. August 2023

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Nach einigen Tagen in Berliner Atmosphäre noch einmal meine radikale Kritik, meine Wurzelkritik unseres politischen Systems.

Wir rühmen uns gerne unserer Fortschrittlichkeit. Wir rühmen uns, weil wir unser Neben- und Beieinandersein in einen rechtsstaatlichen Rahmen gefasst haben und weil wir die Geltungsansprüche, die in unserem Neben- und Beieinandersein unvermeidlich in Konflikt geraten, durch demokratische Verfahren kanalisieren und in Ausgleich bringen.

Fortschrittlich ist dieses politische System jedoch allenfalls in pragmatischer Hinsicht. Es hat nun zumindest den Anschein, als sei jeder Geltungsanspruch relevant. Alle dürfen ihre Geltungsansprüche anmelden, und ihnen wird zumindest der Eindruck vermittelt, ihre Ansprüche fänden Gehör und Eingang. Alle zahlen für diesen Anschein und Eindruck einen Preis: Allein noch der Staat, der die demokratisch sich durchsetzenden Geltungsansprüche zu realisieren und zu gewährleisten hat, darf zum Zwecke der Geltungsdurchsetzung auf – nun rechtsstaatlich eingehegte – Gewalt als Mittel zurückgreifen. Diesen Preis zahlen allerdings streng genommen bloß die Starken, wobei die Vorzüge, die auch sie um dieses Preises willen genießen können, unübersehbar sind.

Das – wiederum pragmatische – Problem dieses politischen Systems: Seine Funktionalität und seine Stabilität sind voraussetzungsreich, und es gibt letztlich keine Wirklichkeitsmacht, die die Wirklichkeit der notwendigen Voraussetzungen garantieren könnte. Man könnte auch sagen: Unser politisches System lebt von der quasi-religiösen Hoffnung, irgendeine unsichtbare Macht werde seine Voraussetzungen schaffen und sichern.

Um nur eine dieser Voraussetzungen zu nennen: Unser politisches System bedarf dauerhaft starker und verlässlicher Verfahren, um seinen pragmatischen Zweck – die Anerkennung und Kanalisierung der Geltungsansprüche aller – überhaupt erfüllen zu können. Stärke und Verlässlichkeit demokratischer Verfahren sind immer schon gefährdet, heute sind sie brüchiger denn je. Mit guten Gründen hat Jürgen Habermas jüngst auf einen weiteren Strukturwandel der Öffentlichkeit und auf das destruktive Potential der Sozialen Medien aufmerksam gemacht. Das, was sich in den Sozialen Medien vollzieht, entzieht sich nicht nur den üblichen und notwendigen demokratischen Verfahren, es untergräbt und destruiert zugleich deren Voraussetzungen.

Gerade auch in dem, was sich in den Sozialen Medien vollzieht, erweist sich die quasi-religiöse Hoffnung, von der unser politisches System lebt, als trügerisch. Zugleich steht uns darin vor Augen, dass unser politisches System bloß eine brüchige und endliche Übergangslösung sein kann. Denn im Kern ist diese Lösung alles andere als fortschrittlich. Grundsätzlich ändert sie nichts. In ihrem Grunde ist sie, wie alle politischen Systeme zuvor auch, darauf aus, vorausgesetzte Geltungen zu sichern. Es ändert sich lediglich die Technik der Geltungsäußerung und der Geltungsdurchsetzung. Damit ist zweifellos viel gewonnen, dem eigentlichen Problem unseres Neben- und Beieinanderseins geht es jedoch nicht an die Wurzel: dem Problem der Geltung überhaupt, damit dem Problem des zuletzt immer destruktiven Streits der Ansprüche. Jedes politische System, das nicht vor aller Technik dem Streit der Geltungsansprüche den Grund entzieht, ist zum Scheitern verurteilt.

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