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Sonntag, 27. August 2023

972

Eine These: Das Signum der okzidentalen Neuzeit ist die Überwindung des Repräsentativen durch das Fiktive. Dieser Trend findet seinen Höhepunkt im Virtuellen. Im Virtuellen werden Formen und Inhalte beliebig. Die mögliche Korrespondenz mit der ersten, eigentlichen Realität geht verloren. Alles tendiert, so könnte man vielleicht sagen, hin zu einer Spaltung von Bewusstsein und Sein. An deren Ende droht der Verlust der Lebensfähigkeit. Wir verlernen, wirklichkeitsgemäß zu existieren.

Ergänzende These: Das zu lösende Problem liegt nicht am Ende dieser Entwicklung. Es liegt in ihrem Anfang, im Repräsentativen.

971

Kleine und feine Urlaubslektüre: Henning Ritters Verehrte Denker. Viele der darin versammelten biographischen Anekdoten insbesondere zu Schmitt, Taubes und Blumenberg sind mir bereits aus Erzählungen vertraut.
Rückblickend ist es wohl gerade auch Blumenberg gewesen, der mir den Schlüssel zu meinem eigenen Denken in die Hand gelegt hat. In Ritters Blumenberg-Skizze dazu noch einmal eine amüsante Analogie entdeckt. Ritter beobachtet bei Blumenberg die „Annahme des realen Nutzens von Imaginärem“. Man könne, so Blumenberg, „im rationalen Betrieb der Erkenntnis eine Tendenz des schwindenden Nutzens des Realen bei gleichzeitig wachsendem Nutzen des Irrealen ausmachen.“ Das ist das Signum der Neuzeit, das Signum insbesondere der Aufklärung: die Neubefestigung im Irrealen, im Imaginären, im Fiktiven. Jenseits der Religion bleibt nichts anderes als ein nicht weniger brüchiges als ob.

Dienstag, 22. August 2023

970

Der freiheitliche säkulare Rechtsstaat ist weltanschaulich nicht neutral. Der theoretische Grund, der diesen Staat trägt und den teilen muss, wer diesen Staat positiv mittragen will, setzt eine spezifische Weltanschauung voraus. Auch muss der moderne Rechtsstaat an seinen Grenzen weltanschaulich ausschließen. Unter seinem Dach finden hier allein noch jene Weltanschauungen Raum, die andere Weltanschauungen und ihre Praxis zumindest neben sich dulden können, die zugleich ihre eigene weltanschaulich geforderte Praxis auf das einzuschränken fähig und bereit sind, was der Rechtsstaat um seiner selbst Willen noch zulassen kann.

Sonntag, 20. August 2023

969

Nach einigen Tagen in Berliner Atmosphäre noch einmal meine radikale Kritik, meine Wurzelkritik unseres politischen Systems.

968

Der Religiöse bedarf nicht der Erfahrung. Er erwartet etwas vom und im Wirklichen, ist also so gesehen Idealist. Als solchem hilft ihm allerdings auch keine Erfahrung. Der Religiöse als Idealist lässt sich von Erfahrung nicht irritieren.
Der Glaubende dagegen bedarf der Erfahrung. Glaube setzt Erfahrung voraus. Die Erfahrung nämlich, dass das Wirkliche nicht hält, was es verspricht, was man sich von ihm verspricht. Erfahrung ist eine notwendige, wenngleich nicht hinreichende Bedingung des Glaubens. Hinzutreten müssen die Bereitschaft zur Verzweiflung im Wirklichen und die Bereitschaft zur Preisgabe des Wirklichen.

Montag, 14. August 2023

967

Gnade setzt das Gesetz aus, indem sie Verknotungen des Gesetzes verhindert. Auch, indem sie Verknotungen des Gesetzes löst. Wobei sich manche Verknotungen allein noch lösen lassen, indem man sie durchschlägt. So gesehen ist so etwas wie gnädige Politik, so etwas wie Politik der Gnade wohl durchaus denkbar.

Sonntag, 13. August 2023

966

Berlin: wohl die Stadt, in der das Phänomen der Gleich-Gültigkeit gegenwärtiger ist als sonst wo in Deutschland, zugleich auch das Phänomen der Vereinsamung des gleich-gültigen Individuums, gedämpft durch das Phänomen der Zuflucht in tribale Strukturen.
Diagnostisch ist mir Berlin, sind mir die Menschen in Berlin sehr nahe, interpretatorisch und praktisch könnte die Differenz größer nicht sein. Was mich vor allem auf Weltenabstand bringt: die nicht selten aggressiv geladene Selbstbehauptung bis hin zur geradezu autistischen Selbstinszenierung. Mit ihr sieht man sich konfrontiert, sobald man in Berlin die Straße betritt. Trotzige In-Sich-Selbst-Verkrümmtheit, wie sie sich schärfer kaum äußern kann.

965

Diskurs kann Wirklichkeit aufklären. Diskurs kann Wirklichkeit auch bewegen. Wirklichkeit ändern kann Diskurs jedoch nicht. Schon gar nicht die Wirklichkeit in der Person der Diskursteilnehmer. Spätestens hier stößt Diskurs an die Grenzen der Natur, an die Grenzen der ersten und zweiten Natur, an die Grenzen des natürlich Möglichen. Man darf die Rechnung nicht ohne den Wirt machen.

Samstag, 12. August 2023

964

In wissenschaftlichen Gültigkeitsdiskursen sucht man in der Regel nach Etiketten, die man den einzelnen Positionen anheften kann. Wenn man mein Denken etikettieren wollte, so würde man wohl davon sprechen können, dass ich einen reservativen Messianismus vertrete.

Donnerstag, 10. August 2023

963

Stau. Jener Zustand, in dem sich für mich das Ärgernis des Wirklichen in einer Nussschale konzentriert. Im Stau sind wir dem kontingenten Zwang des Wirklichen ohnmächtig ausgeliefert. Wir können nicht mehr verfügen. Es wird ohne Vernunft und Sinn über uns verfügt. Unser Wille muss pausieren. Die Differenz zwischen vorgestellter und wirklicher Wirklichkeit wird in einem Augenblick des Wirklichen unendlich groß. Im Stau fällt es mir schwerer als sonst- und anderswo, mir selbst gegenüber, gegenüber den Gesetzen meiner eigenen Natur zumindest eine gewisse Unabhängigkeit zu wahren. Meine Familie weiß davon das eine oder andere Lied zu singen.

Mittwoch, 9. August 2023

962

Gnade ist wirklich, wenn das Gesetz aussetzt. Man könnte auch sagen: Gnade scheint auf, wenn das Gesetz einen Aussetzer hat.

Freiheit ist nicht das Vermögen, einen Zustand oder eine Reihe von Begebenheiten von selbst anzufangen (Kant). Freiheit ist vielmehr das Vermögen, das Gesetz auszusetzen.

Gnade ist nicht möglich ohne Freiheit, und Freiheit ist immer gnädig. Freiheit ist immer ein Akt der Gnade. Allein als Gnade ist Freiheit wirklich.