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Sonntag, 30. Juli 2023

961

Wissenschaft betreiben wir heute so, wie wir früher Religion betrieben haben: Wir mühen uns um Fortschritt in der Erkenntnis, bleiben dabei jedoch dogmatisch und moralisch treu in der Spur.
Vieles spricht für diesen Wissenschaftsbetrieb. In dessen Betriebsamkeit bleibt uns allerdings das auch mögliche Andere verborgen und unzugänglich.

Samstag, 22. Juli 2023

960

Gestern Oppenheimer angeschaut. Der Film hat gewisse Längen, vermag aber durchaus zu beeindrucken. Drei kurze Nachgedanken.

Wir sind heute in eine atomare Arglosigkeit hineingerutscht, die für Oppenheimer noch unvorstellbar war. Wir halten den Einsatz von Atomwaffen für so unwahrscheinlich oder so beherrschbar, dass wir es wieder riskieren, konventionelle Kriege zu führen.

Gott würfelt nicht. Daran hat Einstein bis zuletzt festgehalten. Er kann inzwischen als widerlegt gelten. Die Quantenphysik ist das endgültige Ende eines gesetzlich bestimmten und gesetzlich bestimmbaren Gottes. Die Quantenphysik versetzt dem christlichen Gott sowohl in seiner substanzialistischen als auch in seiner nominalistischen Variante den Todesstoß.

Obwohl wir inzwischen wissen, dass es ein uns sicherndes Ding an sich nicht gibt, obwohl in der Tiefe der Wirklichkeit kein letztes Gesetz, sondern eine letzte Unbestimmtheit auf uns wartet, greifen wir zur Bestimmung unserer Existenz nach wie vor auf das Gesetz, auf Gesetze, auf Gültigkeiten zurück. Verrückt.

Freitag, 21. Juli 2023

959

Ein geschickter Schachzug der christlichen Theologie in römischer Tradition: die Identifikation des Anomos (2 Thess 2,8) mit dem johanneischen Anti-Christen (1 Joh 2 u. 4, 2 Joh 7). So beugt man dem Verdacht vor, in 2 Thess 2 könnte das Christentum selbst gemeint sein. Wenn man sich hier jedoch die Skizze des Anomischen genauer anschaut: die Beschreibung passt durchaus. Allerdings: Dann kann natürlich der wiederkommende Messias nicht identisch sein mit dem wiederkommenden Christus.

Donnerstag, 20. Juli 2023

958

Es sind nicht die Klima-Kleber, die uns Sorgen bereiten müssen. Sie sind bloß eines von vielen Symptomen, ein Symptom für das, was uns eigentlich Sorge bereiten muss: unsere kaum noch zu lösende Weltverklebung überhaupt. Wir alle haben uns auf die eine oder andere Weise an die Welt geklebt, und so geraten wir alle auf die eine oder andere Weise früher oder später unter existenziellen Druck. Wichtiger, als die Klima-Kleber von den Straßen und Plätzen zu lösen, ist also dies: ein geeignetes Lösemittel finden für unsere eigene Verklebung mit der Welt.

957

In meiner Kindheit wurden mir zahllose christliche Wahrheiten eingeprägt, Wahrheiten, die sich mir bis heute immer wieder einmal vor Augen stellen. Jede dieser Wahrheiten sehe ich heute natürlich in einem neuen, anderen Licht. Dabei die spannende Beobachtung: Viele christliche Wahrheiten sind unwahr. Es gibt aber auch christliche Wahrheiten, die dann wahr werden, wenn man sie nicht christlich, sondern messianisch interpretiert.

956

Es gibt ein gängiges, oft mit einem normativen Beigeschmack versehenes Adjektiv, von dem ich in meinen eigenen Texten, soweit ich sehe, noch keinen Gebrauch gemacht habe: irgendetwas sei oder sei nicht mehr zeitgemäß. Ich habe keine Verwendung für diesen Begriff, weil ich nicht sehen kann, inwiefern die Zeit, inwiefern die Mode befehlen könnte, was zu denken oder nicht zu denken, was zu tun oder nicht zu tun sei.
Nur in einem Sinne ließe sich das Adjektiv vielleicht gebrauchen: wenn mit zeitgemäß angezeigt werden soll, dass man hinter bestimmte Aufklärungen und Entzauberungen nicht mehr zurück kann.

Sonntag, 16. Juli 2023

955

Es ist richtig, was man über die sogenannte Generation Z sagt: Menschen dieser Generation können und wollen den funktionalen Zwängen unseres kulturellen Systems nicht mehr so Folge leisten, wie es Menschen früherer Generationen noch konnten und wollten. Was dabei Ursache, was Wirkung ist, ob das Fehl des Wollens das des Könnens bedingt oder umgekehrt, sei einmal dahingestellt. In jedem Falle macht uns die Generation Z mit Ihrem Fehl des Könnens und Wollens ein Angebot: das Angebot eines kulturellen Systemwechsels, zumindest das einer kulturellen Entspannung. Ob die Generation Z dieses Angebot allerdings selbst annehmen will, scheint mir zumindest zweifelhaft. Sie macht uns ihr Angebot ja unter den Bedingungen eines komfortablen Wohlstandsüberschusses. Dieser Überschuss würde jenseits der spezifischen Mechanik unseres kulturellen Systems rasch aufgebraucht sein. Und das Leben, das dann noch möglich wäre, müsste man erst einmal wollen.

954

Zu Nr. 911: Vor einigen Tagen hat Carsten Breuer, der neue Generalinspekteur der Bundeswehr, seine erste sicherheitspolitische Grundsatzrede gehalten. Breuer umkreist hier den Begriff der Zeitenwende, die er vor allem als Gedankenwende zu verstehen fordert. Vieles soll neu gedacht werden. Breuer verlangt nicht zuletzt einen grundlegenden Mentalitätswandel innerhalb der Bundeswehr. Einen Wandel hin zu einer inneren Haltung, die uns wehrfähig macht, die uns befähigt, Kriege zu gewinnen.
Was Breuer offenbar nicht sieht: Er beraubt sich selbst der wesentlichen Voraussetzung für den gewünschten Aufbruch. Weil er an dem festhält, was wesentliche Mitursache dafür ist, dass die Bundeswehr heute strukturell, dass die Soldaten der Bundeswehr heute mental kriegsuntüchtig sind: am Bürgersoldaten. Breuer beendet seine Rede mit der nostalgischen bürgerlichen Parole, wir alle seien die geborenen Verteidigerinnen und Verteidiger unseres Landes. Damit beendet er zugleich die geforderte Wende, bevor sie überhaupt angefangen hat.

Sonntag, 9. Juli 2023

953

Zu Nr. 433: Selbstverständlich ist es nicht wirklich möglich, im Wirklichen auf nichts mehr hinaus zu wollen. Indem man auf nichts mehr hinaus will, will man ja auch auf etwas hinaus. Aus diesem Zirkel gibt es kein Entkommen. Die Fiktion jedoch, auf etwas so hinaus zu wollen, als ob man nicht darauf hinaus wollte, verändert im Wirklichen alles. Von allem, worauf man hinaus will, bleibt man durch diese Fiktion hindurch immer zugleich unabhängig.