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Montag, 28. März 2022

830

Jede Gleich-Gültigkeit frisst früher oder später ihre Kinder.

In jedem Recht, Individuum zu sein, verbirgt sich die Pflicht, anders zu sein, als andere.

In jeder Pflicht, anders zu sein, als andere, verbirgt sich das Verbot, so zu sein, wie andere.

Noch verbietet uns unsere Gleich-Gültigkeit lediglich die kulturelle Aneignung. Doch das ist erst der Anfang. Früher oder später wird sie versuchen, uns die individuelle Aneignung zu verbieten.

Spätestens dann werden wir nicht mehr wissen, was wir noch dürfen.

Das Recht auf Individualität entpuppt sich als das, was es im Kern ist: Seinsverbot.

Donnerstag, 17. März 2022

829

Zum Wahlsieg Donald Trumps habe ich im November 2016 formuliert (Nr. 206): „In Deutschland sind die Reaktionen auf Trumps Wahlsieg noch weitgehend von der säkularen Rationalität der Moderne und der darin gegebenen Fortschrittsannahme bestimmt. ‚Wir dachten, dass wir so etwas schon längst überwunden hätten, dass so etwas nicht mehr möglich wäre.‘ Nun – der deutschen Politik muss man wohl sagen: Haltet euch fest, woran auch immer. Das ist erst der Anfang.“
Nicht wenige gingen damals davon aus, dass es schlimmer kaum kommen könne. Der 24. Februar 2022 hat uns eines Anderen belehrt.

828

Kürzlich eine Frau in Nischni Nowgorod: Unbewegt und still hält sie ein weißes unbeschriftetes Plakat in die Höhe. Ein Nichts, das unübersehbar und unmissverständlich sein Urteil spricht. Unüberbietbares messianisches Symbol. Selbstverständlich wird die Frau verhaftet und abgeführt.

827

Eine Erinnerung: Wir sind nicht die Guten. Wir sind die Erfolgreichen, und wir sind die Wohlständigen. Aber weder dieses noch jenes sagt etwas aus über unsere Güte. Im Gegenteil. Erfolg und Wohlstand haben wir teuer erkauft. Durch ein Höchstmaß an Weltgebanntheit, durch ein Höchstmaß an Bosheit im ontologischen Sinne. Und dabei kommt diese Bosheit höchst moralisch daher. Unser Höchstmaß an Moral rechtfertigt unser Höchstmaß an Bosheit.

Sonntag, 13. März 2022

826

Sofern man sich überhaupt auf so etwas wie Werte stützt, sofern man sich überhaupt an etwas weltwirklich Substanzielles bindet, dem man – aus welchen Gründen auch immer – absolute Gültigkeit beizumessen bereit ist, so tut man gut daran, diese Gültigkeit weder zu universalisieren noch sie zu globalisieren. Sonst wird man sich spätestens an irgendeinem scharfen politischen Ende dieser Gültigkeit vor die Frage gestellt sehen, welchen Preis man dafür zu zahlen bereit ist, dass man ihr treu bleibt. Und der Preis für jede absolut gesetzte Gültigkeit kann streng genommen immer nur dieser sein: alles. Vom scharfen Ende her angeschaut, wird der Wahnwitz jeder Absolutsetzung von Gültigkeiten überdeutlich sichtbar. Auch der Wahnwitz eines absolut gesetzten Menschenrechts im Sinne einer geopolitischen Agenda.

Freitag, 4. März 2022

825

Es ist wieder Krieg in Europa. Was in dieser Lage auch gesagt werden muss, was derzeit leider nur von jenen gesagt wird, mit denen ich interpretatorisch und politisch nichts gemein habe: Die Politik des Westens ist wesentlich mitverantwortlich für die Bedingungen, unter denen sich dieser Krieg anbahnen konnte. Ursachen haben Wirkungen, und Wirkungen sind Ursachen für weitere Wirkungen. Russlands Krieg gegen die Ukraine ist auch eine Wirkung der moralgesättigten Expansionspolitik des Westens in den vergangenen 30 Jahren, einer globalen Genesungspolitik, die den Westen immer wieder in die selbst gestellte normative Falle hat tappen lassen, die zugleich aber in ihrer Selektivität immer auch merkwürdig und unübersehbar verwoben war mit handfesten Absichten nicht-normativer Art. 

Wenn sich nun, angesichts des Krieges in Europa, tatsächlich an unserer Sicherheits- und Verteidigungspolitik etwas ändern soll, dann scheint es mir geboten, nicht zuletzt von dieser Weltgenesungspolitik Abstand zu nehmen. Es wäre zuträglich, den interpretatorischen Zugang zu einer Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu suchen, die sich deutlich zurückzunehmen verstünde, die sich allein noch den Zweck setzen würde, die Existenz derjenigen defensiv zu sichern, für deren Existenzsicherung ihr unmittelbar Verantwortung übertragen wurde. Existenzsicherung müssten diese Politik und die dafür aufgestellten Streitkräfte dann aber auch robust und professionell gewährleisten können.
Eine Politik der defensiven Existenzsicherung hätte erhebliche Konsequenzen bis hinein in die Strukturen, nicht zuletzt auch bis hinein in das Selbstverständnis der Streitkräfte. Letztlich, darauf weise ich seit Jahren hin, wäre der Abschied von Bürgerarmee und Bürgersoldat unvermeidlich. Dieser Weg scheint mir derzeit jedoch noch versperrt zu sein. Gerade auch in der Führung der deutschen Streitkräfte finden sich noch allzu viele Köpfe, die die politische Welt durch eine im Kalten Krieg vorgezeichnete bürgerliche Schwarz-Weiß-Folie anschauen.

Ergänzender Hinweis: Es gibt Leid in dieser Welt, für das wir (militärisch) nicht zuständig sind, für das wir (militärisch) nicht allein deshalb verantwortlich sind, weil wir davon wissen und weil wir über die Mittel verfügen, es zu lindern.