Dienstag, 30. Juni 2020
645
Mangelnde Aufklärung über sich selbst ist immer auch ein Schutz, vor allem ein Schutz vor sich selbst. Diesen Schutz zu verlieren – dafür muss die Zeit reif, dafür muss man vorbereitet und bereit sein. Aufklärung über sich selbst kann allzu leicht überfordern, kann hilflos machen. Und diese Hilflosigkeit kann gefährlich sein, gefährlicher noch als Naivität und Unmündigkeit.
Freitag, 19. Juni 2020
644
Traurig – wie viele kluge, zum Denken fähige Menschen wir nach wie vor an Ideale, Idealismen oder gar Ideologien verlieren. Und natürlich auch an die Feinde des Ideals.
Meine eigenen Ideale, durch die ich hindurchgegangen bin, waren eher Experimente als Überzeugungen. Experimente, die stets am Wirklichen gescheitert sind.
Sonntag, 7. Juni 2020
643
Zu Nr. 636: Gott – das Nichts, das das Nichtige nichtet. Mit diesem Satz ist tatsächlich alles gesagt, von diesem Satz ausgehend lässt sich alles sagen. Nicht zuletzt dies: Wenn wir von Gott reden wollen, müssen wir vom Menschen reden (Bultmann). Oder besser: Von Gott reden heißt vom Weltwirklichen reden. Und diese Rede kann nur zwei Absichten haben: Entzauberung des Wirklichen und Entmächtigung des Wirklichen. Damit zugleich: Selbstentzauberung des Menschen und Selbstentmächtigung des Menschen.
642
Auch so lässt sich Weltwirklichkeit interpretieren: Jeder Augenblick, in dem sich das Wirkliche für uns fügt, ist Anlass zu Dankbarkeit und Demut. Seitdem wir an Newton, seitdem wir an eine gesichert funktionierende und dienstbare Wirklichkeit glauben, haben wir Dankbarkeit und Demut verlernt.
Aber auch: Seitdem wir an Newton glauben, sind wir selbst nichts anderes mehr als Funktionäre und Diener des Wirklichen. In der gegenwärtig zu beobachtenden Sehnsucht nach der Ausnahme, gerade auch in der Sehnsucht nach politischer Willkür, könnte sich die tiefer liegende Sehnsucht Ausdruck verschaffen, nicht länger bloß funktionieren und dienstbar sein zu müssen.
641
Der Fehler reformatorischer Gottesverflüchtigung: Neben dem unsichtbar werdenden Gott wird ein wirklicher Gott behauptet, der von sich das zu offenbaren beschlossen hat, was uns fassbar und zu wissen notwendig ist. Dieser Gott ist jedoch eine sich selbst destruierende Gültigkeitsfiktion (ein Schelm wer behauptet, die Selbstdestruktion des offenbarten Bildes sei die verborgene Absicht des Offenbarenden).
640
Vorhersehbarkeit gibt es immer nur im Nachhinein.