Als ob nicht
Für eine andere Erzählung des Wirklichen
Samstag, 19. Oktober 2024
1059
Das wesentliche Merkmal der sogenannten Generation Z ist wohl nicht ihre Neigung zum Müßiggang. Ihr wesentliches Merkmal ist ihre Existenz unter dem Diktat der Authentizität. Unter diesem Diktat verliert sie die Fähigkeit, in den für den Fortbestand unserer Kultur und ihrer ausdifferenzierten Sachbereiche notwendigen Rollen zu funktionieren. Bei Max Weber galt noch: „Der Puritaner wollte Berufsmensch sein, – wir müssen es sein.“ Heute gilt: Wir müssen noch Berufsmenschen sein, – die uns folgende Generation kann es nicht mehr sein. Wenn man eine große diagnostische Linie ziehen wollte, dann müsste man wohl sagen: Das Christentum frisst heute seine säkularisierten Kinder.
1058
Selbstbehauptung oder Selbstaufklärung. Entweder – Oder. Beides ist nicht zugleich zu haben.
Freitag, 11. Oktober 2024
1057
Eine Notiz zu Joker: Folie à Deux. Der Film ent-täuscht im besten Sinne des Begriffs. Als Realität entspricht er nicht den Bildern, die man sich von ihm entworfen hat.
Was an dieser Ent-Täuschung amüsiert: Gerade sie ist das, was der Film bezeichnet. Die ent-täuschende Differenz zwischen Sein und Schein. Der Film zeigt den Wahn dessen, was wir Liebe nennen. Er inszeniert den Zwang des Scheins, den die Liebe erzeugt. Und er inszeniert den Zwang zum Schein, dem uns die Liebe unterwirft. Wir lieben nie das Sein selbst, sondern immer nur unser Bild des Seins. Und wenn das Bild verweht, wenn es sich auflöst und die Realität erscheint, dann verweht zugleich die Liebe. Das Reale jenseits der Bilder kann man nicht lieben.
Als ent-täuschender Film ist Joker: Folie à Deux schlechtweg großartig. Großartig als Ent-Täuschende sind vor allem auch Joaquin Phoenix und Lady Gaga. Unerbittlich demaskieren sie die Liebe. Und unerbittlich demaskieren sie zugleich das ent-täuschte Publikum.
Freitag, 4. Oktober 2024
1056
Wenn wir annehmen, Wirklichkeit sei eine Mannigfaltigkeit unausgesetzt sich wandelnder Relationen (siehe Nr. 1013, 1017), dann stellt sich vor allem auch die Frage nach der geeigneten Handhabung des Wirklichen noch einmal neu und anders.
Es mag dann durchaus nach wie vor entlastend und entängstigend erscheinen, wenn wir uns Zuverlässigkeiten entwerfen, wenn wir in Denken und Praxis Behausungen errichten und aufsuchen. Es muss uns allerdings bewusst sein und bleiben, dass alle erschaffenen Beständigkeiten und Stabilitäten immer schon im Vergehen begriffen sind. Was wir in Denken und Praxis haben, können wir immer nur noch so haben, als hätten wir es nicht.
Samstag, 21. September 2024
1055
Es ist auch unser Freiheitsbegriff, der uns irreführt und im Wirklichen abträglich wirkt. Mit Kant nehmen wir nach wie vor an, Freiheit sei das Vermögen, einen Zustand, damit zugleich auch eine Reihe von Begebenheiten oder Folgen schlechthin von selbst anzufangen. Wir glauben daran, dass unser Wille unbewirkte, erste Ursache sein kann. Dieser Freiheitsbegriff ist noch durchtränkt von der religiösen Annahme einer göttlichen creatio ex nihilo, zugleich von der christlich-theologischen Annahme einer Analogie zwischen Gott und Mensch, zwischen Schöpfer und Geschöpf.
Dieser Freiheitsbegriff ist in mehrfachem Sinne ein überheblicher. Mit ihm gaukeln wir uns vor allem vor, unser Bewusstsein sei etwas der Natur Enthobenes, etwas den Bedingtheiten des Wirklichen Entrücktes. Abgesehen davon, dass diese Gaukelei mittlerweile längst als solche durchschaut ist: Sie reizt uns einerseits zwar zu beeindruckenden schöpferischen Akten (wobei wir tatsächlich nichts aus dem Nichts erschaffen, sondern bloß natürlich funktionieren), sie reizt uns damit aber zugleich auch zu unausgesetzter, aggressiver Wirklichkeitsdestruktion (alles Neue ist immer Destruktion des Vorhandenen).
Es gilt, einen veränderten Freiheitsbegriff ausfindig zu machen, einen demütigen und demütigenden Freiheitsbegriff, der als bloß uneigentliche Bezeichnung begriffen wird und der uns nicht länger destruktiv durch das Wirkliche hindurchtreibt. Weniger destruktiv wäre etwa ein messianischer Freiheitsbegriff. Messianische Freiheit ließe sich vielleicht als Vermögen begreifen, im kontingenten und paradoxen Dickicht unablässig sich wandelnder Relationen des Wirklichen das eigene, selbst immer als bewirkte Ursache begriffene Wollen und Entscheiden durch aufmerksame Interpretation und Selbsterinnerung so zu prägen und auszurichten, dass im unmittelbar von Wollen und Entscheiden betroffenen Wirklichkeitsraum die regulären, erwartbaren Kausalitäten unterbrochen, also in ihrer Dynamik abgefedert und gedämpft werden, dass der durch Wollen und Entscheiden immer auch aufgebaute, destruktive Druck abgefangen, aufgefangen, umgeleitet und abgeleitet wird.
Freitag, 13. September 2024
1054
In der Fiktion des Ewigen ist das Wirkliche nicht manifestiert. Es ist darin vielmehr aufgehoben und überwunden.
1053
Leben ist das, was im Vergehen begriffen ist, während wir es zu realisieren versuchen.
Donnerstag, 12. September 2024
1052
Es gibt Hoffnungsverwirklichungen, über die man sich kaum noch freuen, für die man kaum noch Dankbarkeit empfinden kann. Weil die Kosten des Wartens so hoch sind.
Sonntag, 18. August 2024
1051
Kürzlich hat sich das MCU mit Deadpool & Wolverine um eine nächste Erzählung erweitert. Der Film ist in jeder Hinsicht drüber. Vielleicht – so meine stille Hoffnung – ein strategisches Zuviel. Wir werden sehen.
Intellektuell anregend an Deadpool & Wolverine ist wohl allein die Einführung der Figur des Ankerwesens (anchor being). Ankerwesen sichern das Gefüge von Raum und Zeit, stabilisieren Existenz überhaupt. Ohne Ankerwesen sterben ganze Welten.
Ein durchaus spannender Gedanke, wenn man ihn in geeigneter Weise symbolisch wendet. So lassen sich Ankerwesen als Symbol durchaus auch messianisch interpretieren. Der Begriff symbolisiert dann das, was ich selbst mit dem Begriff des messianischen Subjekts anzudeuten versuche. Messianische Subjekte sind Ankerwesen der Ungültigkeit in kleinen Wirklichkeiten unmittelbarer Gültigkeiten. Paradox stabilisieren sie nicht die Existenz der Welt an sich, aber die Existenz ihrer jeweiligen Mikrowelten. Ohne sie treiben die Gültigkeiten dieser Welten auseinander und zerfallen.
Samstag, 17. August 2024
1050
Das postmoderne Denken, sofern man überhaupt von einem solchen sprechen kann, nähert sich dem Wirklichen an, ist dem Wirklichen näher und gemäßer als etwa das metaphysische oder das religiöse Denken. Dem postmodernen Denken gerät dabei allerdings aus dem Blick, welchen Nutzen Denken für uns haben soll und muss, zu welchem Zweck wir überhaupt denken: Denken zielt auf Selbstbefestigung im Wirklichen. Nicht zufällig provoziert daher das postmoderne unmittelbar auch das regressive Denken.