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Mittwoch, 3. September 2025

1164

Die Debatten zur Reaktivierung der Wehrpflicht in Deutschland sind in vielerlei Hinsicht entlarvend. Nicht zuletzt markieren sie noch einmal den Hiatus, der sich in den vergangenen Jahren zwischen Staat und Zivilgesellschaft mehr oder weniger schleichend aufgetan hat, gerade auch in der Wahrnehmung und im Selbstverständnis der nachwachsenden Generationen.
Die Wirklichkeit der staatsbürgerlichen Idee hat hier mittlerweile endgültig das Zeitliche gesegnet. Staat und Politik haben nun Leistungserwartungen zu erfüllen, dies zur Gewährleistung eines weitgehend belastungs- und belästigungsfreien Lebensvollzuges der Gesellschaftsangehörigen. Das, was der republikanisch und demokratisch gedachte Staatsbürger der Idee nach selbstverständlich vernünftigerweise um seiner selbst, auch um seiner Freiheit Willen wollen und tun muss, wird unter den veränderten, realen Voraussetzungen zu einer ungehörigen, belastenden und belästigenden Zumutung von Seiten des als Gegenüber begriffenen Staates. Der Staat ist nun nicht mehr Bürgergemeinschaft, sondern Anbieter mehr oder weniger attraktiver politischer Leistungen. Der Gesellschaftsangehörige ist nicht mehr aktiv beteiligter Bürger, sondern passiv fordernder Zivilist.
Angesichts dieser Diagnose helfen idealistische Nostalgie oder nostalgischer Idealismus wenig. Im Ende der staatsbürgerlichen Idee zeigt sich noch einmal nichts anderes als das immer und überall unvermeidliche Scheitern von Idealen im und am Wirklichen. Für Neukonstruktion und Wiedervermehrung der deutschen Streitkräfte muss das bedeuten: Die Bundeswehr darf nicht länger und nicht neu auf Voraussetzungen bauen, die heute mehr denn je verloren sind. Auch darf sie nicht länger und nicht neu so angelegt werden, dass sie die nicht (mehr) gegebenen (staatsbürgerlichen) Voraussetzungen allererst zu schaffen genötigt ist. So belastet würde sie künftig weniger denn je das erreichen können, was zu erreichen heute mehr denn je ihr wesentlicher Auftrag ist: defensive Kampfkraft. Im Angesicht der politischen und gesellschaftlichen Lage scheint es vielmehr sinnvoll zu sein, das Gewordene anzuerkennen und grundlegend neu anzusetzen – gerade auch in Fragen der Selbstverständigung und der Selbstvergewisserung.

Dienstag, 26. August 2025

1163

Unsere saulinische Verblendung: Dem Messias folgend verfolgen wir den Messias. Zweifelsfrei davon überzeugt, göttlichen Willen zu exekutieren, verrichten wir tatsächlich das Werk unseres je eigenen Daimonions, unseres je eigenen Genius.
Die Erhellung vor Damaskus ist kein einmaliges Ereignis. Immer dann und dort, wenn und wo wir uns selbst als messianisch folgsam wahrnehmen, immer dann und dort müssen wir uns von der messianischen Frage zumindest irritieren lassen: Saul, was verfolgst du mich?
Ein Trost für alle, die ernsthaft nachfolgen: Nur, weil Saulus treu sein wollte, war er messianisch ansprechbar.

1162

Nur, wer im Wirklichen erzählerisch unabhängig wird von allem denkbar Gültigen, darf darauf hoffen, das Wirkliche einst halbwegs handhaben zu können. Keine praktische Mündigkeit ohne interpretatorische Heimatlosigkeit.

Montag, 18. August 2025

1161

Kriegstüchtig wird man allenfalls erst im Krieg selbst. Vorher weiß man gar nicht, wovon man da eigentlich redet. Um kriegstüchtig zu werden, müssten wir also wollen, was es gerade zu verhindern gilt.

Mittwoch, 13. August 2025

1160

Vor dem Hintergrund jüngster Erfahrungen mit studentischen Hausarbeiten: Große Sprachmodelle wie ChatGPT sind vielleicht ihrem Wesen, zumindest aber ihrer Wirkung nach anti-demokratisch. Sie verleiten die Vielen dazu, sich der Mühe um selbstständiges Denken, damit auch der Mühe um so etwas wie Mündigkeit nicht mehr zu stellen. Dieser Mühe setzen sich zunehmend nur noch die Wenigen aus, deren Selbstanspruch sie zu Denken und Mündigkeit nötigt. Das also, was zum Zwecke der Demokratie von Massen erwartet werden muss, wird unter der Macht großer Sprachmodelle zu einer Eigenschaft oder Fähigkeit kleiner werdender Eliten.

1159

Ich bin kein Skeptiker in dem Sinne, dass ich die Möglichkeit und Wirklichkeit von Gültigkeiten bezweifeln würde. Mir scheint es aber wichtig zu sein, den fiktionalen Charakter dessen, was wir von und über Gültigkeiten zu wissen, was wir zu erkennen meinen, unausgesetzt bewusst zu halten.

Samstag, 26. Juli 2025

1158

In diesem Jahr habe ich während des Urlaubs einige Tage dort verbracht, wo ich 2015 schon einmal war – auf dem Höhe- und am Wendepunkt einer langjährigen Krise auch im Sinne einer existenziell fordernden Denkbewegung. Die Erinnerungen und Selbstbeobachtungen in diesen Tagen haben mich unwillkürlich vor die Frage gestellt, ob ich dankbar bin, ob ich mittlerweile das, was war und geworden ist, dankbar annehme.

Mittwoch, 16. Juli 2025

1157

Alle Wahrheiten sind falsch, manche sind - räumlich und zeitlich begrenzt - hilfreich. Einige in technischer und ökonomischer, einige wenige in politischer und sozialer, nur sehr wenige in therapeutischer und lebenspraktischer Hinsicht.

Dienstag, 15. Juli 2025

1156

In den vergangenen Tagen eine noch eingehendere Auseinandersetzung mit dem physikalischen Wirklichkeitsverständnis. Dabei erneut die vertraute, immer gleiche Beobachtung: Selbst die traditionell ihrer Sache so sicher erscheinenden Physiker stehen bei ihrem Versuch, Wirklichkeit (wesentlich, substanziell) zu fassen, vor eben jenen instrumentellen Schnittstellenunsicherheiten, mit denen sich jedes ernsthafte epistemologische und sprachphilosophische Denken immer und überall konfrontiert sieht.

Sonntag, 13. Juli 2025

1155

Nach Jahren der äußerlich auferlegten und nahezu unausgesetzten Existenz in Funktion endlich noch einmal Raum und Zeit für das auch mögliche andere. Philosophie der Leiblichkeit existenzialisiert sich in der ganzheitlichen Erfahrung der Gewalt einer brechenden Atlantikwelle. Aufatmen.