Seiten

Mittwoch, 5. März 2025

1116

Die hellenische Wirklichkeitsdistanzierung, damit zugleich die christliche, ist eine andere als die messianische. Die eine ist geboren aus dem erstaunten Bemühen, das als harmonische Einheit wahr- und angenommene Wirkliche zu durchschauen, es zu rationalisieren, ihm zu entsprechen oder gar sich seiner zu bemächtigen. Die andere ist geboren aus dem ernüchterten Bemühen, sich dem als fragmentierte Differenz wahr- und angenommenen Wirklichen zu entziehen, ihm nicht mehr zu entsprechen, seine Bemächtigung zu durchbrechen.

1115

Wer seine eigene Erzählung nicht kennt, wem überdies gleichgültig ist, wie diese Erzählung geworden ist, der darf sich nicht wundern, wenn er sich selbst nicht oder falsch versteht.

Sonntag, 2. März 2025

1114

Was als Freiheit bezeichnet werden könnte: ein Wille ohne Geschichte.

Samstag, 1. März 2025

1113

Die Frage nach dem Selbstverständnis ist Symptom für das fragwürdig gewordene Selbstverständliche (Blumenberg).

Donnerstag, 27. Februar 2025

1112

Verantwortlich sein heißt: unablässig angemessene praktische Antworten zu geben auf die normativen Zumutungen, denen uns unser Bewusstsein angesichts des jeweils Wirklichen aussetzt.

Samstag, 1. Februar 2025

1111

In der wirklichen Demokratie wird die Willkür des absolutistischen Herrschers nicht etwa durch die Bestimmtheit eines volonté générale, sondern vielmehr durch die Kontingenz wechselnder Mehrheiten abgelöst. Diese Kontingenz lässt sich in Massendemokratien allein noch kanalisieren und begrenzen durch dauerhaft stabile Institutionen und Verfahren. Kaum ein anderer hat dies in den vergangenen Jahrzehnten so klar gesehen und vertreten wie Habermas. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Habermas das Phänomen der Sozialen Medien mit wachsender Sorge, mittlerweile geradezu resigniert beobachtet. Soziale Medien untergraben gegenwärtig die Stabilität von Institutionen und Verfahren erfolgreicher und rücksichtsloser als andere Mächte. Sie sind so gesehen nicht etwa höchste Form der Demokratie, sie sind vielmehr das Ende jener Formen, auf die Demokratie um ihres Überlebens willen angewiesen ist (siehe auch Nr. 969).

Anmerkung: Wir werden früher oder später nicht umhin können, unsere Massendemokratien strukturell umzubauen. Immer, wenn ich angesichts dieser Annahme damit beginne, eine mögliche Vorstellung zu entwickeln, steht mir Calvin vor Augen. Er hält jene Regierungsform für die glücklichste, in der aristokratische und volksherrschaftliche Elemente miteinander verbunden sind. Das ist ein durchaus kluger Gedanke. Ob er sich allerdings auch in modernen Massendemokratien realisieren lässt, steht dahin.

1110

Demagogen und Propagandisten reduzieren Komplexität und verknüpfen das Reduzierte zu schlichten, eingängigen Erzählungen. So verführen und bewegen sie Massen. Ganz ähnlich agieren heute die Sozialen Medien als System. Als unpersönliche Mächte sind sie die Demagogen und Propagandisten unserer Gegenwart.

1109

Mitten in der deutschen Brandmauer-Erregtheit der vergangenen Tage noch einmal zwei sympathischen Vorstellungen Blumenbergs begegnet: Bildung zielt wesentlich auf Unverführbarkeit, und Weltbildverzicht ist Bedingung der Möglichkeit von Freiheit. Bildung und Verzicht in diesem Sinne sind selten geworden, gerade auch im politischen Deutschland.

Sonntag, 26. Januar 2025

1108

Noch einmal in aller Schärfe: In priesterlicher Verstrickung lässt sich nur schwer prophetisch reden, noch viel schwerer prophetisch leben. Wo immer möglich, gilt es daher, sich dem Priesterlichen in seinen religiösen und säkularen Erscheinungsformen zu entziehen.

1107

All unser Interpretieren strebt ins System. Damit befriedigt es einerseits das Bedürfnis unseres Bewusstseins nach sicherer Heimstatt, andererseits entfernt es sich so zugleich von dem, was wirklich ist, wird wirklichkeitsungemäß.